Jedesmal, wenn ich die Vorhänge beiseiteziehe, empfängt mich ein strahlender Sonnenschein. Ich weiß überhaupt nicht, womit ich solch schönes Wetter verdient habe, solch stetes, unnachgiebiges, gegen alle Regeln der Wahrscheinlichkeit verstoßendes, für diese Jahreszeit geradezu unnötig schönes Wetter. Nachdem ich aus einem Regenloch entflohen bin, wo ein Blick nach oben meine gärende Wut immer wieder ein weiteres Mal kurz aufbrodeln ließ, wo das eventuelle Aufreißen einer Wolkenschicht den Blick auf die sieben anderen Wolkenschichten freigab, die sich stets darüber befanden und die Sonne nur in kurzen, von mir unbeobachteten Momenten bis auf die Straßen und Dächer Aachens durchließen, und das entstandene Loch eifrig wieder zuzudecken suchten, um die Erde bald darauf als sanften Hinweis, daß die Ordnung wiederhergestellt sei, wieder mit einem heftigen, schreckhaften oder leichten, kitzelnden Regenguß zu bedecken. Hier hingegen, als ob es keine Ermüdung gebe, verausgabt sich die Sonne und liefert sich mit dem immer blauen oder fast blauen Himmel einen darstellerischen Wettstreit, bei dem die Wolken nichts als Statisten sind, die am Rande auftauchen und ziemlich schnell wieder die Himmelsbühne verlassen, um den beiden Hauptdarstellern nicht zuviel Aufmerksamkeit zu entziehen. Es ist sogar schon ein Problem, daß es nicht regnet: Es kommen diese kleinen, unscheinbaren, magischen Pilze nur auf regenfeuchtem Boden zum Vorschein, um dann von rauschsuchenden Physikstudenten abgegrast zu werden um ein kleines Feuerwerk an Sinneswahrnehmungen zu verursachen. Ich war bisher in meinem Leben noch nie in dem Zustand, veränderte Wahrnehmungen zu haben, bis auf vielleicht mein Zeitempfinden und kleine bis mittelschwere Verhaltensstörungen. Aber Halluzinationen visueller oder sogar akustischer Art blieben mir bis auf den heutigen Tag versagt. Naja, wie es scheint, gibt es aufgrund des ausbleibenden Regens auch diesmal für mich keine Möglichkeit, diese Lücke zu schließen.
Won’t you make me see
What I never saw before
What I never heard before
All the things I didn’t feel
They’re still unknown to me
Nun, auch gestern blieb mir eine auch nur kleine Romanze versagt. Wie so oft, verging ein Abend, der bis auf diese eine Sache alles zu bieten hatte, was ein Abend zu bieten hat. Zwei Erasmus-Leute feierten ihren Geburtstag. Es gab Kleinigkeiten aus Europa zu essen, Tortillas, Pasteten, Kuchen und dazu Wein, Sekt und Bier. Wir machten Musik, es wurde geredet, gelacht, geraucht und kokettiert, anschließend ging man zur Residenz Fleming in den „Mill Klub“, ein Jugendzentrum des Universitätsgeländes und man kann mit totaler Gewißheit sagen: die französischen Studenten, mit Unterstützung vieler ausländischer sind im Feiern enorm gut. Die Stimmung in diesem relativ kleinen Schuppen, einer ehemaligen Mühle, war ausgelassen und heiter, unverkrampft und nicht auf angestrengtes Gutaussehen und Coolheit bedacht, wie man es in jeder deutschen kleinen und großen Disko findet. Diese kleinen und großen deutschen Diskos sind also entweder enorm aufgepeppt und verpflichten zu modischem Outfit und angepaßtem Verhalten oder insidermäßig angeschrägt und verpflichten zu individalistisch coolem Aussehen und einzelgängerischem Verhalten.
Hier dagegen findest du Gruppen die klatschen, und zwar gemeinsam und nicht nur im stupiden 4er-Takt, sie blicken sich dabei in die Augen, sind sich zugewand und heben vor allem beim Klatschen die Hände nicht in die Höhe. Sie bewegen sich gemeinsam, aber einzelne Tanzarten werden sogar besonders bedacht und erstaunlich wohlwollend hervorgehoben. Ich erlebte zum ersten Mal in meinem Diskoleben, daß meine Art, zu tanzen, Aufmerksamkeit erregte, und die Heiterkeit, die in den Gesichtern war, entpuppte sich trotz eingefleischten Mißtrauens meinerseits, der das übliche höhnische Lächeln oder sogar Auslachen aller Personen, die sich nicht in den allgemeinen Tanzstil einreihen gewohnt ist, als echte Akzeptanz, ein Erfreutsein über jeden, der sich etwas anders bewegt als der Rest des Haufens. Ich war vollkommen verblüfft und wäre um einige Haare aus meinem Takt geraten und die gesellschaftliche Höhenleiter wieder herabgestürzt, als ich direkt in offene, lachende Gesichter blickte, die einander auf mich aufmerksam machten und mir den erhobenen Daumen zeigten, anstatt das Gesicht zu verziehen, bis ich möglichst schnell wieder in die allgemeinen rhytmischen Zuckungen verfalle. Man nahm mich sogar bei den Schultern und führte mich in einen Kreis vollkommen fremder Menschen, dabei offenbar nicht in der Absicht mich aus dem Konzept zu bringen. Zum Glück balancierte ich diese ungewohnte Situation recht gut aus und verschwand nach angemessen kurzer Zeit wieder zu meiner vertrauten Gruppe.
Überhaupt bin ich in diesen Laden hereingekommen, ohne einen Centime dafür zu bezahlen. Nach einer Zeit des gemeinsamen draußen Herumstehens und Leerens der mitgebrachten Biervorräte in einer Gruppe weiterer Nachtschwärmer, die genau wie wir den Abend vor dem Eingang verbrachten, oder mal mehr oder minder kurz frische Luft zu schöpfen, um sich dann wieder in die Wogen zu stürzen, gingen allmählich immer mehr Erasmus-Menschen ins Innere der Mühle, teilweise nach Bezahlen des Eintritts von 40 Francs, teilweise trickreich bei kurzzeitiger Unaufmerksamkeit der Türsteher. Ich machte mir mit dem Kugelschreiber auf dem Unterarm den Stempel nach und gelangte tatsächlich ins Innere, war überschwenglich und recht vergnügt über den gelungenen Trick, zeigte mein Imitat und ging sogar noch einmal raus und wieder rein, um meine Jacke bei jemandem zu deponieren. Ich stand leider wohl ein wenig zu lange in Eingangsnähe und zeigte ein wenig zu offen meine Freude über den gelungenen Streich, fühlte mit einem Mal eine Hand auf meiner Schulter, die mich sanft aber bestimmt zum Ausgang zog und frierend stand ich wieder vor dem Eingang, verlassen von meinem plötzlichen Mut. Paul, der Schotte und eine seiner Freundinnen gab ihn mir wieder zurück, ich malte die verwischten Kontueren wieder nach, diesmal etwas besser, und versuchte es am anderen Eingang. Aber mein Kunstwerk wurde auch diesmal nicht anerkannt, man schickte mich zurück.
Nun aber ereignete sich eben das, was sich an deutschen Diskotheken niemals, wirklich niemals ereignet und auch niemals, niemals ereignen wird: Der linke Türsteher zeigte sich erfreut über meine Bemühungen und über meine Dreistigkeit und machte mir mit einem anerkennend breiten Grinsen den Weg ins Innere frei, auch gegen den nicht besonders heftigen Protest seines Kollegen. Ich befand mich wieder mitten im wogenden Meer aus Musik und Tanz. Und natürlich muß an dieser Stelle gesagt werden, wie sollte es auch anders sein, daß die Franzosen eine sehr souveräne Art haben, was die Auswahl der Musik betrifft. Es waren ungewöhnliche Stücke, die sich mit bekannten mischten, Hits aus allen Jahrzehnten, aber darunter gerade nicht die Dauerbrenner jeder Saison. Es war mir ohnehin schon fragwürdig erschienen, ob es wirklich sein kann, daß es einem Tanzlokal zuträglich ist, jeden Abend in periodischer Wiederkehr, sogar innerhalb des Abends selbst, die immer gleiche Auswahl an Stücken zu präsentieren, um damit eine angebliche Mehrheit zufriedenzustellen. Hier ist entweder der Mut der Diskjockeys höher, oder die angebliche Mehrheit hat einen offensichtlich besseren Geschmack. Wie ich alleine schon aus der Werbung in diesem Land entnehme, trifft das letztere zu. Die breite Masse hat einen besseren Geschmack, scheut die Wiederholung, liebt die Originalität und die Qualität von allem, was im entferntesten Sinne kulturell ist, darunter auch die Werbung und andere öffentliche Banalitäten.