Ich bin an den Folgen überhöhter Geselligkeit erkrankt. Jetzt schöpfe ich wieder etwas Atem, denn hier alleine in meinem jetzt gerade vollständig eingerichteten Zimmers im Licht der Tischlampe und des Monitors komme ich allmählich wieder zu mir. Es ist mir selbst unheimlich vorgekommen, wie viel passieren kann und der Mensch trotz allem irgendwie seinen Weg durch diesen wandernden, wogenden, kreischenden und umschlingenden Urwald schlägt. Aber heute hat es mir den Rest gegeben. Am tiefsten Punkt seit vielleicht in der Mitte meiner Zivildienstzeit angekommen, habe ich nichts mehr um mich herum aufnehmen können und als wir mit L…, dem italienischen Gaststudenten unter der spätsommerlichen Sonne an einem kleinen universitätseigenen See eine Tüte mit Pariser Presspollen rauchten, unter den Umständen eines Schlafmangels und einer Bronchitis sowie dadurch unter anderem bedingten eingeschränkten Rauchens seit etwa zwei Wochen, schwand mir der Rest meiner Selbstkontrolle und ich legte mich auf den Rasen und gab mich auf.
Nun, ich glaube nicht, daß ich imstande bin, alle Ereignisse der letzten Wochen niederzuschreiben, erst recht nicht in chronologischer Reihenfolge. Um mir aber wieder etwas Halt zu geben, werde ich es versuchen.
Als ich vorhin im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hörte ich den regen Betrieb im Flur des Wohnheims. Klappern in der Küche, Lachen und Labern in mir unverständlichen Worten. Zur Krönung durfte ich die ganze Zeit bis jetzt gerade, also seit über drei Stunden, zwei Lieder in immerwährender Aufeinanderfolge hören. Irgendein für mich unbegreiflicher Mensch sah sich dazu veranlaßt, von dem trüben Begehren seines verrotteten Hirns getrieben, seine Anlage auf die einander wie Fisch und Honig passenden Lieder „Final Countdown“ und „Only You“ zu programmieren und ohne davon abzulassen, ohne jede Unterbrechung oder Atempause, ohne Rücksicht oder Gnade, ohne jede Barmherzigkeit oder zumindest einen Rest primitiven Mitleids, vielleicht in einem Anfall aus musikalischer Rache, deren Ziel oder Grund mir für immer vollkommen verborgen bleiben wird, hielt er diese Programmierung durch und aufgrund des regen Verkehrs in diesem Zimmer ging die Tür alle zwei Minuten auf, um dem längst schon nicht mehr an Dummheit denn an hoffnungslosen, vielleicht sogar gefährlichen Wahn glaubenden, ohnehin schon angeschlagen im Bett liegenden, unfreiwilligen Zuhörer ein weiteres Mal die beiden Kompositionen um die Ohren zu schlagen. Jetzt gerade ging die Tür wieder auf und es ist nicht zu glauben: es läuft gerade „Final Countdown“.
Die Franzosen können nicht radfahren. Oder wenigstens tun sie’s nie, also woher sollten sie es können. In Paris selbst sieht man nie ein Fahrrad und sogar hier auf dem Campus der Universität fahren sie die dreißig Meter lieber mit dem Renault als mit einem Motobecane. An der Front des Vorlesungsgebäudes, in dem wir Quantenmechanik hören, lehnen fünf Räder. Wir spekulieren, wem sie wohl gehören. Aus der Tür treten fünf Gestalten, die zu ihren Rädern gehen und sie aufschließen: Drei Deutsche, ein Holländer und ein Italiener. Bekannte Gesichter, es sind Erasmus-Studenten, wie wir. In der Fahrradhöhle unter meinem Wohnheim sind außer meinem noch drei andere Räder. Eins davon ohne Vorderrad. Die Franzosen haben eine unergründliche Zuneigung zu allem was gesundheits- oder umweltschädlich ist. Um diese Zuneigung zu befriedigen, rauchen sie starke Marken, trinken neongelb fluoriszierende Limonaden aus Plastikflaschen, die natürlich ohne Pfand sind, dafür aber den pauschalen grünen Punkt aufweisen, damit sie sich auch im Ausland verkaufen, und in allem, was sie zu sich nehmen ist ein Löffel Zucker. Es gibt in der Mensa sogar Yoghurt „natur“ mit Geschmacksrichtung „zucker“, die anderen sind „sucrée et aromatisée“. Neulich habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Käse gegessen, der so orange war, daß er versprach, nach sonnengereiften Aprikosen zu schmecken, aber doch verbarg sich darunter natürlich wieder nur Käse. Ich frage mich, warum sie ihn nicht auch mal aus Spaß blau färben?
Gerade bin ich zurückgekehrt, die Mensa ist bereits geschlossen. Ich mache mir drei kleine Brote mit Käse und dazu Leitungswasser mit einer darin aufgelösten Multivitamintablette. Die Sonne scheint draußen und auf der Wiese vor meinem Fenster sitzen Gruppen von Studenten, die sich sonnen, sich unterhalten, Gitarre spielen. Und wie immer fühle ich mich bei Betrachten dieser Grüppchen recht einsam und denke, deren Leben ist viel ereignisreicher als meins, es ist das eigentliche Leben, während ich nur ein Schattendasein führe. Man könnte jetzt an dieser Stelle die Stirn runzeln und ein paar Absätze zurückgehen, um sich zu vergewissern, daß da eben etwas anderes über mein Leben gesagt wurde. Ich sei gesellschaftsgeschädigt, ich hätte über all die Ereignisse keine Zeit zur Besinnung und suchte die Einsamkeit, zumindest für ein paar Stunden. Und nun beklage ich mich über Ereignislosigkeit in meinem Leben und Einsamkeit? Noch gestern saß ich mit vier anderen Wohnheimsinsassen hier in meinem Zimmer, es wurde gegessen, getrunken, musiziert und gekifft, ich bekam Lob und schöne Blicke von den beiden süßen Spanierinnen, bei denen ich mich einfach nicht entscheiden kann, welche mir besser gefällt, der Tag war anstrengend, ich habe von neun Uhr morgens bis halb acht abends in einem abgedunkelten Raum Versuche mit dem Interferometer von Fabry-Perrot durchgeführt, mein Partner in diesem Praktikum ist Franzose und neben seinem Franzosensein, also alles verstehen und fragen und das Protokoll ausformulieren können, auch äußerst fähig im Experimentieren und vor allem im Erklären, was ich dabei zu machen habe. ich war recht ausgeschöpft und fühlte mich aber gut dabei, ohne Unterbrechung ging der Tag in den Abend über und letzterer lief wie oben beschrieben ab. Aber kaum am nächsten Tag in einigen freien Minuten überkommt mich wieder dieses Gefühl, im Grunde allein zu sein, von anderen nur als lästig und lächerlich empfunden zu werden und eigentlich nichts von alldem zu besitzen, was man als interessant bezeichnen könnte. Dabei hilft mir auch mein Verstand nicht weiter, der mir pflichtgemäß eine Kurzanalyse meines seelischen, körperlichen, geistigen und gesellschaftlichen Zustands gibt, mein Gefühl ist halt einfach anderer Meinung und will sich davon auch nicht abbringen lassen. Jedes glückliche Gesicht erzeugt in mir Neid, jedes Pärchen Eifersucht, traurige Eifersucht und meine Handlungsfähigkeit ist stark eingeschränkt.
Nun, ich denke, es handelt sich vielleicht um eine Art von Entzugserscheinung. Wenn man also gesellschaftskrank wird, so wird man gleichzeitig süchtig danach. Ich frage mich oft, was die Leute immer wieder zueinandertreibt. Wenn ich auf dem Gang entlanggehe, sehe ich immer wieder dieselben Gestalten, die den Gang hinauf oder hinunter gehen, von einem Ende zum anderen, aus einem Zimmer kommend, im nächsten verschwindend, mit anderen Personen im Türrahmen stehend und sich dabei über irgendetwas unterhaltend, wieder in die Küche gehend, aus der Küche kommend, grüßend, unverständliche Fragen stellend, die man mit einem höflichen, obligatorisch lachenden „Oui“ beantwortet. Man meint, sie würden ihr ganzes Leben ausschließlich in diesem Gang verbringen, allein zum Schlafen sich in ihr Zimmer zurückziehen, es sonst immer nur für höchstens fünf Minuten betreten, meist um etwas zu holen, und dann schnell wieder zurück zu den anderen. Und ständig gibt es etwas zu lachen. Gleichmäßiges, amüsiertes, ansprechendes und zum Mitlachen aufforderndes, gesellschaftliches Lachen. Jetzt gerade wieder, etwas heiseres männliches Lachen und das perlende, aufreizende weibliche Lachen, das man am liebsten mit einem kommentarlosen wilden Kuß ersticken möchte.
Sie sind süchtig. Sie sind alle wie Drogenabhängige hinter Gesellschaft her wie hinter einem Schuß. Und scheinbar fühle ich auch, warum. Es fehlt, wenn es fehlt. Wenn du in Gesellschaft bist, geht es dir gut (außer mir offenbar), sobald du bei dir selbst bist, stellt sich der Entzug ein. Es ist ruhig und still, du legst eine CD ein, um etwas Geselligkeit zu simulieren, als wäre das ganze Leben eine einzige, immerwährende, niemalsendende Party. Gut, ich fühle mich in Gesellschaft unwohl, zumindest recht häufig. Trotzdem leide auch ich unter Entzug. Was für ein seltsamer Zustand. Wie der Süchtige, der sich schon gar nicht mehr auf seinem Stoff wohl fühlt, aber in dennoch braucht, um sich nicht total beschissen zu fühlen. Vorgestern erlebte ich eine totale Misere, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe. Ich saß da im Seminar über Chaos und versuchte dem Vortrag zu folgen, was mir gänzlich mißlang. Andere schauten und hörten, stellten Fragen und füllten ihren Kopf langsam mit Wissen, während ich in meinem Stuhl hing und abglitt in die Fegefeuer der Isolation. Nach einer Stunde wäre ich am liebsten in Tränen und Verzweiflung ausgebrochen, mein Zustand schien mir rettungslos verloren, meine Zukunft schwarz wie immer, meine Vergangenheit dahin und meine Gegenwart einsam, ohne Verbindung zur Außenwelt, ich fühlte mich links und rechts von allen überholt und sah mich allein zurückbleiben auf der Strecke, wie früher, auf den Wanderungen bei Klassenfahrten und im Sportunterricht. Ich begann, einen Eintrag in mein rotes Heft zu machen, das ich für eventuelle tagebuchartige Notizen bei mir trage. Und es waren vergleichbare Eintragungen, wie ich sie schon einmal in den schlimmsten Zeiten meines Lebens gemacht habe. Ich mag es gar nicht mehr lesen, aber es hat mir gut getan, ich ärgere mich selbst über die Reduzierung schriftlichen Ausdrucks auf rein therapeutische Wirkung. Vielleicht hat es neben dieser Wirkung auch literarischen Wert. Ich mag die bloße Pragmatisierung nicht.
Jetzt habe ich meine Audiogeräte angeschlossen und könnte anfangen, Aufnahmen zu machen. Ich denke, ich werde es versuchen.
Es ist wieder etwas Zeit vergangen, aber wesentliches hat sich nicht geändert. Es passiert sehr viel und immer noch leide ich an chronischer Zeitarmut. Ich bin wie ein Almosenempfänger gezwungen mit meiner Zeit zu geizen wie mit einem Rest Wochengeld, das irgendwie reichen muß. Ich frage mich, wie andere Leute sich beklagen können, in ihrem Leben passiere zu wenig. Ich frage mich vor allem, wie ich mich das immer wieder fragen kann. Es ist wohl eine nie zu stillende Sehnsucht, die immer nur zeitweise beruhigt werden kann. Und das sind Momente, iun denen ich wirklich arbeiten kann, in eine Sache vertieft, oder in denen ich vielversprechende Gespräche mit hübschen Gesprächspartnerinnen führe, die aber in den allermeisten Fällen im Sande verlaufen. Das isat im Grunde, was mich am Leben hält. Ein steter Hunger, der mich weitertreibt. Wäre dieser Hunger jemals gestillt, ich glaube ich würde auf der Stelle zusammensacken und mich in einen jämmerlichen Haufen umhäuteter Knochen verwandeln, der über alles und nichts klagt, am meisten aber über sich selbst, wobei er nicht genau weiß ob das alles oder nichts ist. Wenn das alles ist, ist es traurig genug, und wenn es wirklich nichts ist, dann ist es einfach beschissen.
Ich frage mich oft, wer alle Momente behält, die ich erlebe. Wer imstande ist, sie wieder zusammenzufügen, zu einem gesamten Leben. Ich bin es jedenfalls nicht. Es scheint jedes Erlebnis vertan, das nicht unmittelbar festgehalten wird oder der Produktion von Auswürfen literarischer oder musikalischer Art dient. Doch was ist mit den sich weitaus in der Überzahl befindlichen Augenblicken, die einfach vorübergehen, so sehr ich sie auch beachte und versuche, einzusaugen? Wie ein Traum, den man meint, ganz fest im Kopf behalten zu können, den man aus dieser unergründlichen Gewißheit und aus Schläfrigkeit nicht sofort in Worte kleidet, den man dann bei vollständigem Erwachen später bei größter Anstrengung niocht mehr ins Gedächtnis zurückrufen kann und deren Bruchstücke, wenn sie überhaupt noch vorhanden sind, überaus unsinnig und zusammenhanglos, wenn nicht sogar trivial und belanglos erscheinen. So kann das Leben vielleicht auch bloß ein Spiel sein, das man nie zuende spielt und von dem man immer nur einen vergleichsweise winzig kleinen Ausschnitt sieht. Ein Ausschnitt aus Raum und Zeit in einer gigantischen, allgegenwärtigen Realität, eine kleine Wirklichkeit, die scheinbar keinerlei Bedeutung oder Dauer besitzt. Ich glaube an die Wahrheit und an den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realtität wie an ein religiöses Manifest. Keiner könnte mir sagen, daß ich recht oder unrecht habe. Es ist in vollkommener Weise ein Glaubensbekenntnis. Und ich kann nicht gut mit einem Ungläubigen diskutieren, weil es mich ganz wild macht, wie jemand dieses für mich so offenbare, so unmittelbar Wahre nicht selbst auch als wahr empfindet. Ich stoße über die Grenzen meiner Toleranz hinaus. Philosophen die dem Positivismus oder der immer moderner werdenden, uralten subjektiven Weltsicht anhängen, können mich zur Raserei treiben, weil sie mir wie Esel vorkommen, die den Hafer leugnen, den sie fressen. Wie die Philosophen in Brechts „Galilei“, die über den Sinn oder Unsinn der Existenz der Jupitermonde diskutieren, und sich standhaft weigern, einen Blick in das bereitstehende Fernrohr von Galilei zu werfen. Ich bin selbst fasziniert von der Eigenartigkeit der Existenz und auch ihrer Fragwürdigkeit, aber die Art der Diskussionen selbst etablierter Philosophen widert mich immer wieder an. Mit ihrer Sprache stricken sie ein Netz, in dem sich der Zuhörer verstrickt und stolpert, so daß er nicht zum Kern der Sache vorstoßen kann. Ihnen geht es um Selbstbehauptung, nicht um Erkenntnis. Und zudem sind die Argumente wirklich häufig äußerst fade und abgeschmackt.
In meinem Studium erlebe ich immer wieder, wie irrig manche scheinbar vernünftige Annahme sein kann. In Begriffen der Unendlichkeit oder der Logik zu denken, bedarf es klarer Regeln. Sonst redet jeder über etwas anderes. Und wenn Philosophie sich anmaßt, etwas über Wahrheit oder Wirklichkeit auszusagen, na dann sollen sie bitte auch wirklich wahr reden. In ständiger Inkonsequenz stricken ihre billigen Missionare Argumentationsketten, die so saft- und kraftlos sind wie ein im Wüstensand vertrockneter Wurm.