Brief an einen Freund

Brief an einen Freund

Bruder,

nun sitze ich hier zwischen den nackten Wänden, mein Tippen hallt durch den leeren Raum und ich denke so vor mich hin, wohin es uns wohl so treibt. Am Mittwoch um zehn werde ich umziehen, ohne jeden Zweifel und ganz nach Plan. Und während ich die Zukunft einleite, begegnet mir die Vergangenheit. Gestern habe ich beim Ausmisten alter Disketten einige Passagen in vergangenen Tagebucheinträgen entdeckt. Es ist wie eine Geschichte von jemand anderem, in dem noch jemand anders vorkommt. Die beiden kennen sich und ich scheine meinerseits beide zu kennen. Ein zaghaftes Licht der Erinnerung flackert in den Hinterzimmern meines Geisteskastens.

Ich will dir das nicht vorenthalten, du findest angehängt besagte Tagebucheinträge, die ehrlich und komisch sind in ihrem Sarkasmus und ihrer Zerworfenheit. Sie erzählen viel von der damaligen Zeit, von meiner und deiner Stimmung, von unserer Wahrnehmung der Dinge und vor allem von der Wahrnehmung von uns selbst. Wir waren uns so ähnlich damals, und wir sind doch immer wieder aneinander vorbeigeritten auf unseren schreienden und bockenden Eseln, jeder in die falsche Richtung. Aber ich muss auch sagen: Es war eine faszinierende Zeit und vieles davon war sehr kostbar. Und ist es immer noch.

So wie ich diese Eintragungen wiederentdecke, finde ich Schnipsel meiner Person, die sich inzwischen fortbewegt hat, vieles hinter sich gelassen, die entdeckt hat, wie es ist, dabei zu sein, dazuzugehören. Aber die auch viele wertvolle Dinge auf dem Weg zurückgelassen hat. Ich schaffe es heute nicht annähernd einen so flüssigen und energischen Text hinzukratzen wie damals. Schartig und rostig quietschen heute meine Synapsen beim Schmieden der Sätze. Ich will daran arbeiten, es muss wieder die Energie und Intensität hinein in meine Sprache und mein Denken, die mich damals sogar meine Fehlleistungen und Niederlagen hat genießen lassen, auf eine gewisse eigene und seltsame Weise. Und es ist wahr: Die Leute haben immer noch Spaß, gerade jetzt lachen und trinken sie wieder unter meinem Fenster, genau wie gestern auch, und ich gehöre wieder nicht dazu. Das ist wohl auch ganz gut so, denn so kann ich hier sitzen und tippen.

Kim